Ehrlichkeit im Anthropozän
Es ist dem Menschen eigen, sich Dinge schön zu reden. Eine Überlebensstrategie, die auch angesichts der ungeheuren Leistung (und oft auch Fehlleistung) der Menschheit mit ihrem Erfindungsreichtum und erzeugter Beschleunigung der zurückliegenden 170 Jahre nicht plausibel ist.
heute geht es nicht mehr um pünktlichkeit
sondern die küstenlinie kommender Schäden
meter für tag für liter für tonne für grad
für uns stehen keine koordinaten bereit
Asmus Trautsch, aus: Mit Allen Fisher und Franz Josef Czernin auf dem Weg nach Berlin, erschienen in: Anja Bayer und Daniela Seel (Hrsg.), All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän, Anthologie, kookbooks, Berlin (2016)
Wir haben den Respekt verloren. Auf der Terrasse steckte sich Herr Solms eine Zigarette an, wie er es seit 40 Jahren in seinen Wachphasen mindestens halbstündlich tat. Er kommentierte dies mit der Aussicht, dass er in fünf Jahren ein künstliches, technisch einwandfreies Organ erhalten würde, das seiner Lunge adäquat sei. Es ist, das wissen wir, wenn wir ehrlich sind, höchst unwahrscheinlich. Und selbst wenn es einen implantierban Apparat gäbe, so fehlte es an einem Sponsor, denn auf eine Kassenleistung spekuliert im Jahre 2018 kein geistesgegenwärtiger Intensivpatient ernsthaft. Des Herrn Solms Sucht ist unserem gesellschaftlichen ‒ über alle Schichten hinweg ‒ Schönreden nicht unähnlich. Tuvalu und die Malediven sind dem Anstieg des Meeresspiegels gedanklich bereits geopfert, wenn wir beispielsweise Geoengineering-Konzepte als machbare Technologie der Rettung auffahren. Unsere Politik reagiert auf die Polemik der sich zuschnürenden Ränder, auf Trump, Erdoğan und Putin und vertraut unterdessen auf die Innovationskraft der Hightech-Branche in so virulenten Angelegenheiten wie der rasend voranschreitenden Zerstörung von Lebensräumen. Aber wer bestellt die Entwicklung, wer kommt dafür auf? Sollten wir darüber hinaus jetzt hektisch werden und unseren Lebensstil sofort verändern?
Wir im globalen Norden sollten unseren Beitrag leisten und zahlen. Betrachteten wir es als Reparationen an die zerstörte Natur, unsere Lebensgrundlage, so müsste der Einschnitt erheblich sein, ähnlich der aktuellen Steuerlast. Drei Viertel der Bevölkerung blieben anseiten von Herrn Solms und zuversichtlich, weshalb benötigte Etats politisch nicht durchsetzbar sein würden. Komplexe und in globaler Dimension installierte Systeme würden überdies an den Bedenken regionaler Großmächte nicht vorbeikommen. Wir sollten mittlerweise tatsächlich auch hektisch werden. Unser Armageddon wird gewiss nicht spektakulär, aber es wird zum vorzeitigen Ende nicht alleine einer Gattung führen. Und ein Zeitalter wird in aller Regel historisch eingeordnet und betitelt, wenn es vorbei ist.
Der oft bekräftigte Wille zur Bewahrung der Schöpfung ordnet sich (derzeit sogar den Bedürfnissen des Volkswagen-Konzerns) unter, und die Ziele des Pariser Abkommens verwässern. Statt radikaler klimapolitischer Veränderungen ist das Holzfällersyndrom zu beobachten: Die abgenutzte Axt wird umständlich weiter benutzt und bleibt darüber hinaus ein Lippenbekenntnis.
Ich weiß nicht genau, wann ich ernsthaft damit begonnen habe, Pläne für die Zukunft zu machen. […] Schließlich folgte ich einem Ruf der Forstwirtschaft und begann eine vielversprechende Holzfällerkarriere.
Loriot, aus: Nachwort in eigener Sache, in: ders., Menschen, Tiere, Katastrophen, Reclam, Stuttgart (2017)
Weitere Links:
- Über den irreführenden Begriff »Anthropozän« in einem übersichtlichem Weckruf: Barbara Unmüßig, »Anthropozän: Mensch macht Epoche«, Heinrich-Böll-Stiftung, 16.02.2018 [20.02.2018]