Ethik im Marketing – Würdigung und Wahrheit

Die Fachzeitschrift absatzwirtschaft titelt in der aktuellen Ausgabe (03/2016) mit dem Thema Ethik, einem Kernprinzip unseres täglichen Wirtschaftens. Chefredakteur Christian Thunig schreibt – ausgehend vom als unethisch identifizierten VW-Skandal – im Editorial dazu:

 

»Konsumenten fordern moralisch sauberes Handeln ein. […] Das führt in der Reaktion mittlerweile dazu, dass Discounterketten Wert auf eine saubere und schadstoffarme Textilproduktion legen […] Es klingt verrückt, aber ethisch vertretbares Verhalten könnte zu einem Wettbewerbsvorteil avancieren. Spannend, oder?«

 

Nein, das ist nicht spannend. Und vor allem ist es nicht neu. Am Abend der Veröffentlichung von Thunigs Editorial wurden vom selben Fachblatt die Gewinner beim Marken-Award 2016 gekürt. In diesem Rahmen wurde auch der von der ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft ausgelobte »ZMG-Best Sellers Best« verliehen, ein Preis für ausgezeichnete Handelswerbung. Erhalten hat die Trophäe der Discounter Lidl mit seiner Kreativagentur Freunde des Hauses für die Kampagne »Woran erkennt man eigentlich…«. Mitglied der Jury ist auch Chefredakteur Thunig. Lidl? Ja, genau der Discounter, der (nicht zu unrecht) wegen seines unethischen und profitorientierten Handelns bereits oft Kritik ausgesetzt war. Auf den medial breit geschalteten Auftakt-Spot »Woran erkennt man eigentlich gute Qualität?« der hier ausgezeichneten Kampagne folgte eine Reihe weiterer emotionaler Vignettenspots, im April 2015 einer zur ökosozialen Verantwortung.

 

 

Drei Tage vor der Auszeichnung von Lidls Werbeauftritt veröffentlichte der Guardian eine Kalkulation, wie es dem Discounter in Großbritannien aktuell gelingt, eine Jeans für 5,99 £ anzubieten. Das Preismodell funktioniert nur auf Kosten der Näherinnen in Bangladesch, die mit einem Stundenlohn von 0,23 £ – so vom Guardian ermittelt – leben müssen. Es liegt auf der Hand, dass die »Unternehmens-, Führungs- und Verhaltensgrundsätze« nicht ernstgenommen werden, denn fair gegenüber Geschäftspartnern ist dieser Tarif keinesfalls. Gethin Chamberlain vom Guardian fasst zusammen:

 

»… when your business model is based on offering the lowest possible prices, someone has to subsidise that, and that someone is the worker stitching those jeans. Lidl does not buy its jeans from Bangladesh because Dhaka’s factories are the finest in the world: it does so because they pay their workers a pittance. […] It’s not magic. It’s just exploitation.«

 

Wie passen der ZMG-Preis für Lidl, die Selbstverpflichtung des Unternehmens für sozialverantwortliches Handeln und der Impuls für gelebte Unternehmensethik vom Titelblatt der absatzwirtschaft zusammen? Gar nicht. Der Preis bewertet alleine den Erfolg der Kampagne, die Jury des ZMG-Preises bezieht die journalistischen Themen des Heftes natürlich nicht mit ein, weil alleine die Wirkung der Kampagne betrachtet wird. Nur der Chefredakteur der absatzwirtschaft müsste wissen, dass es nicht ganz stimmig wirkt, den Nutzen ethischen Handelns für Wirtschaftsakteure im Heft zu fokussieren, wenn zeitgleich ein Unternehmen auf dem Siegerpodest steht, das den Wein alleine predigt.

 

Abb. 1
Preisverleihung an Lidl beim Marken-Awards 2016 am 15. März 2016

Preisverleihung beim Marken-Awards 2016 des Fachmagazins absatzwirtschaft

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Abb. 2
Prospekt mit den ab 10. März gültigen Angeboten von Lidl Großbritannien

Katalogseite von Lidl Großbritannien

 
 
 
 
 
 
 
 
 

 


Nachträgliche Änderungen und Ergänzungen:

[17.03.2016] Nach einem Gespräch mit Christian Thunig, Chefredakteur der Branchenzeitschrift absatzwirtschaft, stellen wir richtig, dass er selbst nicht Vorsitzender der Jury des ZMG-Preises ist, sondern lediglich einfaches Mitglied des Gremiums. Der Marken-Award 2016 des Fachmagazins steht – außer dass die Preise am selben Abend und auf der selben Bühne verliehen wurden – in keinem Zusammenhang mit dem Branchengipfel 2016. Die Entscheidung der Jury wurde zweifelsfrei unabhängig von Erwägungen zum ethischen Handeln des Unternehmens getroffen – die Würdigung bezieht sich alleine auf den Marketingerfolg. In unserem Beitrag wurden entsprechende Stellen korrigiert. Wir sind uns darüber hinaus einig, dass das Titelthema der Zeitschrift nicht bloß einen Trend beschreibt, sondern einen Prozess in Gang bringen will, der das Umdenken in Unternehmen befördern möchte, und dass dafür viele Maßnahmen notwendig sind. Wir danken Herrn Thunig für die Bereitschaft zum offenen Dialog zu unserer Kritik.

In der Unternehmenspolitik und bezüglich der Lieferkette ist Lidl auch schon wichtige Schritte gegangen: Das Unternehmen ist Mitglied der Business Social Compliance Initiative (BSCI), hat ein Compliance-Management-System etabliert und den Verhaltenskodex als Unternehmensgrundsatz verankert. Der Filialist hat einzelne Produkte im Sortiment, die mit dem Fairtrade-Siegel beweisen, dass ein Handel auf Augenhöhe mit den Produzenten auch im Discountgeschäft möglich ist. Und das Unternehmen unterstützt auch langfristig angelegte soziale Projekte wie beispielsweise den Bundesverband Deutsche Tafel. Im Dialog mit der Redaktion konnten wir allerdings auch erörtern, dass aus unserer Sicht die Kommunkation sozialer Aspekte des wirtschaftlichen Handelns nur dann authentisch ist (und aus unserer Sicht auch nur dann geschehen darf), wenn das Unternehmen ganzheitlich und mit allen Unternehmensbereichen dieser Linie folgt. Lidl steht erst am Anfang und ist durch die Hervorhebung sozialer Aspekte in der Kommunikation und gleichzeitige Compliance-Verstöße aus unserer Sicht ein unglaubwürdiger Marktakteur.

Wir behaupten, dass der Discounter schon oft Kritik ausgesetzt war. Gemeint sind damit z.B. der Skandal um die Videoüberwachung von Mitarbeitern 2008 (der auch rechtliche Konsequenzen hatte), die Enthüllung zu Krankenstandsakten von Mitarbeitern 2009, mit denen Arbeitnehmerrechte systematisch unterwandert wurden, die Bündelung von Vorwürfen der Ausbeutung von Mitarbeitern bei Textilzulieferern in einer Klage von Verbraucherschützern 2010 oder irreführende Werbung für die Qualität von Lebensmitteln, die ohne transparente Herkunftsangaben vertrieben werden, im Zusammenhang mit der eingangs zitierten Kampagne 2015.

[17.03.2016] Die ESMARA® Damen Jeggings im 5-Pocket-Style ist im deutschen Online-Shop von Lidl inzwischen für 5,99 Euro (statt zuvor 7,99 Euro) zu haben. Verfügbar sind lediglich noch die Konfektionsgrößen 40 und 42 und nur wenige Designs. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass der Discounter bereits eine neue Kollektion hat nähen lassen.

[09.04.2016] Am 3. März 2016 wurde die Lidl Stiftung & Co. KG beim 5. Fairtrade Award mit dem 1. Platz in der Kategorie »Handel« ausgezeichnet. Die sechsköpfige Jury begründete die Wahl mit der kontinuierlichen Unterstützung von Partnerprojekten in den Ursprungsländern, mit der die Kaffeekooperativen u.a. Aufforstungsprojekte und Weiterbildungsmaßnahmen finanzieren, sowie der bundesweiten Einführung fair gehandelter Produkte vor inzwischen zehn Jahren. Der Umsatz mit Fairtrade-zertifizierten Produkten beschränkt sich bislang auf Kaffee und Kakao, der im Auftrag von Lidl auch in einigen Süßwarenprodukten verarbeitet wird. Im Sortiment der Lidl-Eigenmarke Fair Globe werden laut Fairtrade 20 zertifizierte Produkte angeboten. Mitglieder der Jury waren jeweils ein Vertreter des Bundministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), der Verbraucherzentrale NRW und des Verbands Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO). Aber auch der Handelsverband Deutschland (HDE) und die dfv Mediengruppe (im Deutschen Fachverlag erscheinen auch Fachtitel wie die Lebensmittel Zeitung und Der Handel) stellten jeweils ein Jury-Mitglied. Auch wir fühlen uns der Fairtrade-Idee verbunden und haben sogar schon einmal eine Kampagne für TransFair umgesetzt. Insofern begrüßen wir die Haltung von Lidl in dieser Hinsicht. Aber gehen denn alle an den Wühltischen mit Non-Food-Artikeln bei Lidl achtlos vorbei?

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